Sonderpreis

Christine Metz

geb. 1953 in Dinkelsbühl
lebt und arbeitet in Ried
cmetz.de

Wie ein Mikrokosmos eröffnet sich die Arbeit von Christine Metz mit dem Titel „Ant Nest“ dem Betrachter. Dargestellt ist ein Istzustand, ein scheinbar willkürlicher Blick auf den Boden, wie er uns täglich tausendfach begegnet. An den meisten dieser Sehwahrnehmungen gehen wir achtlos vorüber. Fokussiert auf das Große, Laute und Spektakuläre gerät das Leise und Filigrane allzu oft in den Hintergrund.

Hier setzt Christine Metz mit ihrer Arbeit einen entschiedenen Kontrapunkt. Denn nicht nur das Motiv, eine in Close-up-Technik quasi herangezoomte Ansicht des Waldbodens, sondern auch ihre Arbeitsweise sind mehr als außergewöhnlich.

Keineswegs handelt es sich bei ihrem Werk nämlich – wie man auf den ersten und auch auf den zweiten Blick meinen könnte – um eine Makrofotografie. Vielmehr ist das komplette Blatt in akribischer Handarbeit als technisch perfekte Bleistiftzeichnung ausgeführt. In ihrer handwerklichen Präzision erinnert sie an die Meisterwerke der deutschen Renaissance auf dem Gebiet des Kupferstichs, aber auch der Aquarellmalerei. Nicht von ungefähr fühlt man sich an Albrecht Dürers Naturstudien wie „Das große Rasenstück“ erinnert. Wie bei diesem werden der räumliche und zeitliche Kontext fiktiv, wenn nicht gar irrelevant. Es spielt keine Rolle, an welchem Ort und zu welcher Zeit diese vergrößerte Bodenansicht entstand. 

Die meisterhafte Zeichnung von Christine Metz ist aber nicht nur ein seismographisches Protokoll von Wahrnehmung, sondern auch eine empathische Annäherung an eine scheinbar intakte Natur. Das Nest der Waldameisen ist Teil einer Ordnung, die wie die Zeichnung selbst einer akribischen Struktur folgt. Wie der Mensch bildet die Ameise Staaten aus. Und unvermittelt eröffnen sich neue Assoziationen: Wo gibt es Parallelen? Wie sehr unterliegt der Mensch staatlichen Strukturen? Wo beginnt oder endet individuelle Freiheit und wo liegen die Vorteile einer Gesellschaftsstruktur? Wo sind die Grenzen und wo die Schnittmengen zwischen Kollektiv und Individuum?

Auf der anderen Seite enthält die Arbeit von Metz zugleich ein Irritationselement: Bei völliger Abwesenheit des Menschen in dieser im Ausschnitt präsentierten archaischen Natur ist auch sonst kein Leben sichtbar. Auch auf das bis zu zwei Millionen Individuen umfassende Ameisenvolk gibt es keinerlei Hinweis. Damit erhält „Ant Nest“ auch etwas latent Bedrohliches, spiegelt einen quasi postapokalyptischen Zustand, der durch die trichterförmige Vertiefung in der unteren Bildhälfte noch forciert wird. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass „Ant Nest“ etwas von unendlicher Größe besitzt. Die Zahl der Nadeln ist so überdimensional, dass sie vom Betrachter nicht ohne Weiteres erfasst werden kann, was eine gewisse Hilflosigkeit provoziert.

Doch das ist nur eine mögliche Lesart. Denn durch die perfekte Struktur der Zeichnung und eine Harmonie, die an das Ideal des Goldenen Schnitts gemahnt, strahlt „Ant Nest“ zugleich auch etwas sehr Beruhigendes aus und vermittelt die Zuversicht einer wenn nicht göttlichen, so doch evolutionären Ordnung. Vor diesem Hintergrund und eingedenk der Arbeitsweise von Christine Metz kann „Ant Nest“ genauso gut auch als Symbol einer meditativen und kontemplativen Naturbetrachtung gesehen werden, als Appell zur Entschleunigung und als Ermutigung zur Flucht vor medialer Überfrachtung.

 

Dr. Frauke Bayer, 2025